Melodierestitutionsforschung

Die Restitutionsgruppe

Restitutionsgruppe
Die Restitutionsgruppe bei einem Treffen in Moosburg. Von links im Uhrzeigersinn: Heinrich Rumphorst, Stefan Metz, Prof. Stephan Zippe, Prof. Josef Kohlhäufl, Anton Stingl, Dr. Inga Behrendt, Sr. Liobgid Koch OSB, Prof. Dr. Johannes Berchmans Göschl. Nicht auf den Photo: Franco Ackermans, der Photograph.

Restitutionsgruppe
Sitzung in Moosburg. Um den Tisch sind versammelt (von links im Uhrzeigersinn): Prof. Dr. Johannes Berchmans Göschl, Sr. Liobgid Koch OSB, Dr. Bernhard Huber, Franco Ackermans, Heinrich Rumphorst, Inga Behrendt, Prof. Josef Kohlhäufl. Nicht auf dem Bild sind der Photograph dieser Aufnahme, Stephan Zippe, dessen Stuhl auf der rechten Seite daher verwaist ist, und Alexander Schweitzer.

Begründung der Restitution und Vorgehensweise

Die gemeinsame Arbeit an der Restitution der Melodien des Graduale Romanum 1908 begann im Januar 1977 in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach auf Initiative von Godehard Joppich, zusammen mit Luigi Agustoni, Rupert Fischer, Johannes Berchmans Göschl, Liobgid Koch und Heinrich Rumphorst als ständigen Mitgliedern der Gruppe. An allen Arbeitstreffen nahm auch Dom Eugène Cardine bis zu seiner Erkrankung im Oktober 1984 teil.
Anstoß zu dem Unternehmen gaben vor allem das 1966 erschienene Graduel neumé und das 1977 im Entstehen begriffene Graduale Triplex (1979), beides Bücher, die auffallende Widersprüche zwischen den adiastematischen Neumen und den Melodien des Graduale Romanum aufwiesen. Der Grund dafür lag in der Vorgeschichte dieser Ausgabe.

Zeigen die musikalischen Handschriften des Gregorianischen Chorals vom 10. Jahrhundert an lange eine weitgehende Übereinstimmung in der Überlieferung der Melodien, sind besonders vom 17. Jahrhundert an tiefgreifende Entstellungen festzustellen, die sich fortsetzten und durch die Möglichkeiten des Buchdrucks und auch durch die damit einhergehenden wirtschaftlichen Interessen zu einem fast unvorstellbaren Melodiedurcheinander führten. Diesen Zustand änderten erst die Ausgaben der Editio Vaticana (Kyriale 1905, Graduale 1908, Antiphonale 1912). Sie stellten eine nicht hoch genug anzuerkennende Leistung dar; sie beruhte auf den Vorarbeiten der Mönche von Solesmes, die sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um eine einheitliche Fassung der gregorianischen Gesänge auf der Basis ihrer Quellen, d.h. der Handschriften, mühten.

Trotzdem entsprachen die Bücher noch nicht im erforderlichen Maße der urspünglichen Überlieferung, nicht zuletzt, weil die Arbeitsmethode noch in den Anfängen steckte und weil der späteren Überlieferung oft der Vorzug gegeben wurde. Die in Solesmes weitergeführten Forschungen zeigten die Notwendigkeit von Korrekturen der Editio Vaticana. So kam es z.B. zur Herausgabe des Antiphonale Monasticum 1934, das für die Kongregation der Benediktiner von Solesmes das Antiphonale Romanum 1912 ersetzte, später aber überall benutzt wurde. Und für Gesänge des Graduale Romanum zeigte z.B. Dom Joseph Gajard die Notwendigkeit von Korrekturen in den Études Grégoriennes I (1954) mit seinem Aufsatz: Les récitations modales des 3o et 4o modes dans les manuscrits bénéventains et aquitains (S. 9-45).

Einen entscheidenden Schritt bedeuteten auch die Forschungsergebnisse von Dom Eugène Cardine auf dem Gebiet der Paläographie bzw. Semiologie. Er trat 1928 in die Abtei von Solesmes ein und war von 1952 an Professor für Paläographie (Semiologie) am Pontificio Istituto di Musica Sacra (PIMS) in Rom. Die adiastematischen Neumen hatten den Mönchen von Solesmes im 19. Jahrhundert auch als Vorbild gedient für die Gruppierung der Noten in der Quadratnotation anstelle undifferenzierter Notenketten vorhergehender Bücher. Die Forschungen Cardines zeigten die rhythmisch-agogische Bedeutung der adiastematischen Neumen und ihre Hinweise auf die Wertigkeiten der Tondauer und schufen damit die Möglichkeit, die gregorianischen Gesänge auch rhythmisch richtig zu singen und auf semiologischer Grundlage zu interpretieren. Für die Praxis schufen dem Sänger und Interpreten dafür nun zum ersten Mal die genannten Bücher Graduel neumé und Graduale Triplex die notwendigen Voraussetzungen, da in ihnen zur Quadratnotation die adiastematischen Neumen und die Zusatzbuchstaben hinzugefügt waren. Als Problem erwiesen sich dabei die Fälle, in denen die Angaben der adiastematischen Handschriften mit dem gedruckten Melodieverlauf nicht übereinstimmten.

Dass die Melodien der Editio Vaticana vom Anfang des 20. Jahrhunderts einer kritischen Neubewertung unterzogen werden mussten, wurde 1963 im Artikel 117 der Konstitution des II. Vatikanischen Konzils „Über die heilige Liturgie“ so ausgedrückt: „paretur editio magis critica librorum iam editorum – erarbeitet werden soll eine kritischere Ausgabe der bereits herausgegebenen Bücher“.

Die Neuordnung der Liturgie auf Grund der oben gennanten Konstitution führte zu einer Neuzusammenstellung der Propriumsgesänge, die von einer Arbeitsgruppe (Coetus XXV) mit dem Vorsitzenden Eugène Cardine und dem Sekretär Luigi Agustoni erarbeitet wurde. Sie erschien 1972 als Ordo Cantus Missae , d.h. als bloße Liste der Gesänge; diese wurde von Solesmes in die 1974 erschienene Ausgabe eines Graduale umgesetzt, das alle Gesänge mit ihren Melodien enthielt (mit den rhythmischen Zeichen von Solesmes, die nie Teil der Editio Vaticana waren). Darin waren aus dem Graduale Romanum 1908 die allermeisten Gesänge des ältesten Repertoires beibehalten, einige neu aus den Handschriften hinzugefügt, die meisten späteren und neogregorianischen Stücke, etwa 350 an der Zahl, entfernt. Die Melodien selbst wurden nicht überarbeitet, und zwar „in Erwartung der Kritischen Ausgabe, die 1948 begonnen worden war, aber leider verzögert wurde auf Grund der vom Konzil geforderten Arbeiten“, wie Jean Claire später, am 3. Mai 2000, im Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom ausführte (Studi Gregoriani XVI – 2000, S. 23).

Insbesondere die Ausgabe des Graduale von 1974 als Graduale Triplex mit den adiastematischen Metzer und St. Galler Neumen ließ eine kritische Neudurchsicht der Melodien als dringlich und nicht mehr aufschiebbar unmittelbar erfahren. Das galt für die Sänger, die den selbstverständlichen Anspruch haben, für die rhythmisch-agogisch zutreffende Singweise auch, soweit möglich, die richtige Melodie zur Verfügung zu haben; das gilt darüber hinaus auch für alle Aussagen über Gregorianischen Choral, z.B. in der Musikwissenschaft, weil sie eine richtige Melodie voraussetzen, soweit das nur möglich ist.

Aus diesen Gründen begann die aus Mitgliedern der AISCGre bestehende Gruppe Ende Januar 1977 ihre Restitutionsarbeit. Hierfür bilden sechs adiastematische und sieben diastematische Handschriften die Grundlage, und zwar vor allem auf den Rat von Dom Eugène Cardine, der an der oben von Jean Claire zitierten Kritischen Ausgabe / Édition critique des Graduale Romanum (Solesmes 1957-1962) mitgearbeitet hatte. Cardine stellte auf der ersten Sitzung die beginnende Arbeit in einen größeren Zusammenhang: Auch wenn noch nicht für alles die wissenschaftliche Grundlage vorhanden sei (Solesmes warte noch, der Stammbaum der Handschriften sei noch nicht sicher), solle die Arbeitsgruppe auf den bisher erarbeiteten Ergebnissen aufbauen und von ihnen ausgehen.

Die von der ersten Sitzung an erarbeiteten Ergebnisse werden seit 1996 in den „Beiträgen zur Gregorianik“ (BzG – ab Band 21) als „Vorschläge zur Restitution von Melodien des Graduale Romanum“ regelmäßig veröffentlicht, wobei alle notwendig erscheinenden Änderungen in einem ausführlichen kritischen Apparat begründet werden. In besonderen Fällen werden in den BzG zusätzliche Forschungsarbeiten veröffentlicht.

Der große erste Teil dieser Restitutionen ist im Band I (De Dominicis et Festis) des Graduale Novum 2011 in der ConBrio Verlagsgesellschaft Regensburg und der Libreria Editrice Vaticana erschienen. Michel Huglo, der seinerzeit mit Eugène Cardine in Solesmes zu der Arbeitsgruppe für die Erarbeitung der Édition Critique des Graduale Romanum gehört hatte, urteilt am Ende seines Vortrages im Mai 2011 im PIMS in Rom über die Verbindung der im Graduale Novum erschienenen Melodierestitutionen mit der Arbeit Cardines folgendermaßen : Ce nouveau graduel, ‘plus critique que l’Édition vaticane‘, peut être considéré désormais comme un hommage posthume aux recherches de Dom Cardine durant toute sa vie au service de l’Église (Atti del Congresso Internazionale di Musica Sacra, Roma 2011, Libreria Editrice Vaticana 2013, S. 85). – Von nun an kann man dieses Neue Graduale, ‚kritischer als die Editio Vaticana‘, als eine postume Würdigung der Forschungen Dom Cardines betrachten, die dieser während seines ganzen Lebens im Dienst der Kirche geleistet hat.

Heinrich Rumphorst