Mysterium Salutis

Eine tiefgehende theologisch-musikalische Einführung von Birte und Johannes Berchmans Göschl auf etwas mehr als 6 Seiten des Booklets (von insgesamt 16 Seiten Umfang) bereitet den Boden für verstehendes Hören der 20 gregorianischen Gesänge aus Messe und Officium, die unter dem Gesamtthema MYSTERIUM SALUTIS – GEHEIMNIS DES HEILS zu drei großen Themen geordnet sind: Gesänge aus der Fasten- und Passionszeit, aus der Osterzeit und zum Fest der Weihe einer Kirche. Die weiteren Seiten des Booklets enthalten die lateinischen Texte mit deutscher Übersetzung und Informationen zu den Ausführenden, also der 1998 gegründeten Schola Gregoriana Monacensis und ihrem Leiter Johannes Berchmans Göschl. Dieser, 2006 in München emeritiert, ist in aller Welt weiter aktiv wie in der erst kurz vergangenen Zeit als Professor an der Hochschule für Musik und Theater in München, deren derzeitige und ehemalige Studenten jetzt noch die acht Mitglieder der Schola stellen, die sich für die Aufnahme zusammengefunden haben. Sie singen homogen und schön, Schola und Solisten erweisen sich als geprägt durch die gründliche Auseinandersetzung mit der Semiologie als Basis der Interpretation; nur gelegentlich hört man, dass die Gruppe nicht mehr ständig gemeinsam singt.

Im ersten Teil (Fasten- und Passionszeit) finden sich fünf Gesänge, die
auch auf der CD EXAUDIAM EUM des Consortium Vocale Oslo zu hören sind, auf derselben Basis der Semiologie interpretiert, mit individuellen Unterschieden.

Die Stimmfärbung beider Gruppen ist verschiedenen, bei den Münchenern etwas heller; das unterschiedliche Tempo hängt von der Interpretation der einzelnen Gesänge ab. Für das Graduale Christus factus est nimmt sich die Schola Monacensis (Tr. 9) etwa 20 Sekunden mehr Zeit. Was sich beim Zeitmesser als Zahl präsentiert, zeigt sich im Gesang in der Gestaltung. Wenige Beispiele: bei ad mortem am Ende des ersten Satzes des Responsums ist bei den Münchenern über dem Wort ad die abschließende Resupinnote durch augmentative Liqueszenz stärker zurückgehalten und bereitet so spannungsvoll das folgende mortem vor, das dann mehr als Abschluss des Satzes factus est … oboediens usque ad mortem – er wurde gehorsam bis zum Tod ausgeführt ist; beim Consortium Vocale (Tr. 21) ist dieser Satz weniger prononciert zurückgehalten. Im Vers ist in „Oslo“ der Pes-Schwung zur zweiten Note auf Deus – Gott deutlich hingeordnet auf die folgende Aussage exaltavit illum – hat ihn erhöht, und der Schluss quod est super omne nomen – der über jedem Namen ist unterstreicht durch den zügig gesungenen großen melodischen Bogen mehr den Aspekt der Freude über die Erhöhung, während der Münchener Solist diesen Gedanken verhaltener und meditativer gestaltet, wobei er schon im vorhergehenden exaltavit illum – hat ihn erhöht eben dieses illum ähnlich heraushebt. Natürlich braucht er dafür mehr Zeit, und beide Interpretationen haben ihr Recht.

Der Introitus Oculi wird von den Münchenern (Tr. 3) zügiger gesungen, was zu dem Eindruck führt, dass sie auch das wichtige Wort semper – meine Augen richten sich immer auf den Herrn bemerkenswert schneller nehmen als das Consortium Vocale (Tr. 5); das Tempo bei diesem Wort ist aber jeweils nur in das Gesamttempo integriert. Im Offertorium Improperium machen die Münchener (Tr. 7) in dem Satz, der der Verzweiflung Ausdruck gibt und ich wartete, wer zusammen mit mir die Trauer trage, und es gab ihn nicht durch die ausdruckstarke augmentative Liqueszenz die Verzweiflung bei dieser einsilbigen Negation non besonders hörbar.

Das Kyrie XVII A wird von der Schola Monacensis (Tr. 4) mit neun Rufen im Wechsel von Solist und Schola gesungen, natürlich auch mit einem vorbildlichen Diphthong ei, ebenfalls nach dem Vorbild der authentischen Gesänge rhythmisch-agogisch gestaltet. Dabei ist die erste Kyrie-Gruppe noch etwas leicht äqualistisch, bei dem um einen Ton nach oben sich ausdehnenden Christe lebendiger, und bei der dritten Gruppe, die eine Quart weiter nach oben führt, ein differenziert vorgetragener Jubelgesang. Die Osloer singen je zwei Rufe im Wechsel Solist – Gesamtgruppe von Anfang sehr bewegt, mit ganz deutlicher Hinordnung vorkommender Pesneumen zur zweiten Note, wodurch der Gesang sein eigenes ausgeprägtes Relief erhält.

Der Text des Hymnus Crux fidelis ist eines der fünf Gedichte von
Venantius Fortunatus (etwa 530–600) auf das Kreuz. Es beginnt an sich
mit dem Text Pange lingua gloriosi proelium certaminis – Künde, Zunge,
den Kampf ruhmvollen Wettstreits!
Die im Original achte Strophe ist
am Karfreitag, an dem der Hymnus während der Kreuzverehrung gesungen wird, zur ersten geworden. Sie besingt das Kreuz als den Baum des Lebens: Crux fidelis inter omnes arbor una nobilis – Treues Kreuz, unter allen Bäumen der einzig edle. Von dieser Strophe wird anschließend nach jeder sich weiter anschließenden Strophe der erste bzw. zweite Teil wiederholt. Die ursprünglich fünfte Strophe des Venantius-Gedichts, die das Kind in der Krippe zum Thema hat (Vagit infans), ist im GT weggelassen, hatte aber noch im Graduale Romanum 1908 hier ihren Platz. Die Doxologie am Ende stammt nicht von Venantius Fortunatus und stimmt auch nicht mit der Fassung des o.g. Graduale Romanum überein.

Das Consortium Vocale Oslo (Tr. 20) singt zwischen der Einleitungsstrophe und der Doxologie die ersten drei Strophen, die Schola Gregoriana Monacensis (Tr. 8) zwei weitere. In beiden Aufnahmen singt die gesamte Schola die Strophe Crux fidelis, ebenso die jeweiligen Teilwiederholungen, die übrigen Strophen sind einer Kleingruppe überlassen bzw. Solisten bei der Schola Monacensis. Eigens zu nennen sind bei den Münchenern die Verse Pange lingua und Flecte ramos, wo die Gestaltung von Text und melodisch-rhythmischer Form besonders gelungen ist.

Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind nicht nur hörbar, sie sind interessant und anregend! Denn sie machen deutlich, entsprechend den adiastematischen Handschriften längere und kürzere Werte zu singen reicht nicht, man muss sie dem melodischen, modalen und textlichen Zusammenhang entsprechend gestalten; ohne Musikalität geht es auch hier nicht.

Was bei beiden absolut gleich ist, ist nur im Booklet festzustellen, das sind die deutschen Übersetzungen der in beiden Aufnahmen auftauchenden Gesänge. Diese und manche andere würden, wenn er sie genau betrachtete, das Herz eines Latinisten vor freudiger Zustimmung nicht unbedingt höher schlagen lassen.

Eines der charakteristischsten Merkmale im Gregorianischen Choral ist die Reperkussion, im Graduale Triplex gibt es kaum einen Gesang ohne diese Besonderheit. Natürlich führen auch die Münchener sie immer gut aus. Welche Aussagekraft sie haben können, ist z.B. im Gr Tenuisti (Tr. 5) zu hören. An zwei Stellen findet sich eine Folge von fünf Tönen auf fa, bei der der zweite und der vierte Ton eine Artikulation aufweisen. Schola und Solist führen sie deutlich aus und bewahren damit deren Hinweischarakter. Im Responsum findet sich diese Reperkussion nämlich auf der Akzentsilbe von dedu-xi-sti (me) – du hast mich geführt, im Vers über gres-sus – beinahe wären ausgeglitten meine Schritte. Das vorausgehende beinahe besagt – sie sind es nicht, und der kompositorische Hinweis auf deduxisti deutet den Grund an: weil du meine Schritte geführt hast. Der oben schon einmal ins Spiel gebrachte Latinist würde daher vermutlich zu bedenken geben: Hilfreicher für verstehendes Hören wäre statt der freien Übersetzung beinahe wäre ich gefallen die wörtliche, weil darin die gressus – Schritte genannt werden.

Zu den vier Gesängen der Osterzeit auf der CD gehört der Allelujavers vom Ostersonntag Pascha nostrum immolatus est Christus – Unser Osterlamm ist geschlachtet, Christus (Tr. 11). Der Solist (Christian Meister) macht mit seinem Vortrag den Sinn deutlich, den der Komponist dem immolatus mit dem ausladenden Melisma gegeben hat: Das, was Tieren widerfährt und an Christus vollzogen wurde, bedeutet für uns Erlösung und Heil und beglückende Freude. Viel zurückgenommener komponiert ist der Introitus desselben Sonntags
(Tr. 10): Resurrexi – Auferstanden bin ich. Sehr fein haben die
Münchener solche „Kleinigkeiten“ gestaltet, wie z.B. das syllabische
tecum – bei dir (bin ich in Zukunft)
oder die Artikulation von mirabilis
wunderbar ist geworden dein Wissen
, ebenso die Bewegung
der Tristropha auf der Endsilbe von scientia zu tua, damit
den Hinweis auf den Vater, zu dem Christus spricht, eng heranholend. Dagegen wirkt der Anfang des Introitus doch ein wenig zu temperamentvoll.

Sehr bestimmt gesungen ist auch der Anfang der Antiphon Zachaee festinans descende – Zachäus, steige eilig herab (Tr. 19), der zu der Gruppe der Gesänge zum Kirchweihfest gehört. Selbst inmitten einer Lärm verbreitenden Menschenmenge konnte Zachäus diesen Ruf nicht überhören. Und er folgt der Aufforderung Jesu: at ille festinans descendit – aber der stieg eilends herab. Dieser Satz hat dieselbe Vertonung wie die oben zitierte Aufforderung. Eine deutliche Bezugnahme des Komponisten (vgl. oben deduxisti und gressus) auf die Ausführung der Aufforderung.

Dem Textzusammenhang entsprechend ist die Lautstärke zurückgenommen z.B. beim Graduale Locus iste (Tr. 15), wozu der solistische Vers (Sebastian Schober) in wirkungsvollem Gegensatz steht, und beim Offertorium Domine Deus, in simplicitate cordis mei – Herr, Gott, in der Einfachheit meines Herzens. Eindrucksvoll hier: Dein Volk sah ich mit ungeheurer Freude – vidi cum ingenti gaudio. Obwohl gaudio nicht über das obere do hinausgeht, das schon zweimal vorher gesungen ist, erhält das Wort durch die dynamische Gestaltung eine ungeheure Plastizität, die, wie man umgangssprachlich sagt, den Inhalt „rüberbringt“. Sehr schön gelungen ist auch die Liqueszenz von voluntatem, die die Schlussanrufung Domine Deus an sich heran bindet. Diese Anrufung am Schluss des Gesangs macht ihrerseits durch ihr weniger ausgeprägtes Ritardando deutlich, dass noch etwas folgt. Dieser sich dann anschließende Vers ist vom Komponisten
als eindrucksvoller Gegensatz zu dem Beginn der Offertoriumsantiphon gestaltet: Fecit Salomon solemnitatem in templo – Es vollzog Salomon eine festliche Feier im Tempel (nach 1 Könige 8,65 und 9,2). Inhalt des Verses ist der großartige Abschluss der sich über acht Tage hinziehenden Feierlichkeiten der Weihe des Tempels in Jerusalem durch König Salomon. Auf höchsten Höhen und mit sich weit erstreckenden Reperkussionen vollzieht sich der Jubel des Gesangs. Der Solist Sebastian Schober, der auch viele andere Verse
mit großem Können eindrucksvoll vorträgt, lässt diesen Vers zu einem Höhepunkt der CD werden.

Dass Johannes B. Göschl die Melodien in restituierter Form singt, ist bei ihm selbstverständlich. Das eine oder andere davon ist zuerst ungewohnt, wenn man die bisherigen Melodien im Gedächtnis hat. Ausschlaggebend für die Melodiegestalt ist aber das Zeugnis der Handschriften. Auch wenn Alter, Herkunft und jeweilige Besonderheit der Handschriften nicht jedes Problem lösen lassen, können doch nur die von ihnen bezeugten Melodien den Gregorianischen Choral, wie er war, erklingen lassen und Aussagen über diesen Gesang erlauben. Gott sei Dank hatte die Editio Vaticana (Graduale 1908) schon vieles und Entscheidendes geleistet. Was aber immer noch weitergeht, ist die Feinjustierung, die bisher Verschüttetes ans Licht bringt. Welchen Sinn hätte es, auf richtig gedeuteter semiologischer Basis falsche Melodien zu interpretieren?

Wohl zum ersten Mal auf einer CD dürfte die restituierte Fassung der Communio Domus mea (Tr. 18) zu hören sein. Der Aufstieg gleich am Anfang bei mea zur kleinen Terz (statt der großen in der Vaticana) und der Anschluss mit dem 7. Psalmton wollen den Modus dieses Gesangs klären, der schon in frühen Jahrhunderten nicht ohne Unsicherheiten war.

Die Hymnen folgen den gedruckten Fassungen des GT bzw. Liber Hymnarius, wobei für die Gliederung des Textes der Inhalt, nicht die Gliederungszeichen ausschlaggebend sind. Die beiden aus dem Officium (Tr. 13 und 20) repräsentieren die im Proprium Missae nicht übliche Strophenform. Für den sorgfältigen Umgang mit dem Textbezug nur ein kleines Beispiel: Je dreimal findet sich in jeder der
fünf Strophen des Hymnus Urbs Jerusalem beata in der zweiten Hälfte
des Verses ein syllabischer Aufstieg re-fa-la mit folgendem Abstieg zum sol. Sehr häufig findet sich der Hochton la auf einem Wortakzent, selten auf einer Endsilbe. Hier hält der Solist (Christian Dostal) den vorhergehenden Wortakzent leicht zurück, so dass die Endsilbe keine störende Betonung erhält und das jeweilige Wort auro – Gold und manum – Hand vor ihrem folgenden Attribut gut abgerundet wird und seine Eigenständigkeit bewahrt.

Die CD ist eine sehr gelungene und sehr hörenswerte Aufnahme, die den Hörer hineinführt in die unterschiedlichen Klanggestalten gregorianischer Gesänge, die anzuhören Freude und geistiger Gewinn ist und der man weite Verbreitung wünscht.

Heinrich Rumphorst
Bezugsquelle