Hosanna Filio David

21 Gesänge aus dem Zentrum des Kirchenjahres: Schon allein die Anzahl und der Umfang der eingespielten Gesänge sind beachtlich. Es handelt sich um die Proprien der Messen vom Fünften Fastensonntag (mit der CO. Nemo te condemnavit), vom Palmsonntag (ohne den Hymnus Gloria, laus), der Messe vom Letzten Abendmahl am Gründonnerstag (ohne den TR. Ab ortu solis und den zum OF. vorgesehenen Gesang Ubi caritas et amor und ohne den Hymnus zur Übertragung des Allerheiligsten, Pange lingua; von den Gesängen zur Fußwaschung wurde die ANT. Dominus Jesus eingespielt) und um die Gesänge der Feier des Leidens und Sterbens Christi am Karfreitag.
Darunter befinden sich Höhepunkte des gregorianischen Repertoires, wie etwa das GR. Christus factus est und der TR. Deus, Deus meus.
Höchst beachtlich ist diese Einspielung aber nicht nur wegen ihres Umfangs, sondern vor allem wegen der interpretatorischen Leistungen der Schola und der Solisten unter Leitung von Johannes B. Göschl.
Wer die Schola schon „live“ gehört hat, der weiß, dass deren Sänger durchweg mit solistischen Fähigkeiten begabt sind. Gleichwohl mischen sie sich zu einem homogenen Gesamtklang. Der schönste Beleg dafür ist vielleicht gleich das erste Stück der CD, der Introitus Iudica me Deus.
Was begeistert an diesem Scholagesang am meisten? Die Klangschönheit, die Flexibilität und semiologisch differenzierte Agogik in der Interpretation melismatischer Gesänge? Das sicher. Am besten aber gefällt mir die Schola in den nicht so tonreichen Gesängen, da wo die natürliche Textdeklamation noch durch den Gesang hindurchscheinen kann, wie in der CO. Nemo te condemnavit, in der CO. Pater, si non potest, in der ANT. Crucem tuam oder im Responsorium Ingrediente; da z. B. an der rezitativischen Stelle resurrectionem vitae. Dort steht in schöner Regelmäßigkeit auf der 1., 3., 5. und 7. Silbe ein (Akzent-)Pes. Hier – zum Beispiel! – zeigt sich die wahre Meisterschaft der Schola: Weit entfernt von einer mensuralistischen oder aequalistischen Ausführung dieser Stelle verdichtet sich die Agogik auf vítae hin und stiftet so einen Sinnzusammenhang. Etwas Schade nur, dass der Solist vor ei noch atmen musste. Aber das ist eine Marginalie: Denn auch die solistischen Qualitäten kann man in dieser Aufnahme bewundern, insbesondere bei den Tracten und Gradualien! Die Verse der Tracten werden zwischen Solisten und Schola aufgeteilt. Beim Tractus Deus Deus meus brillieren die Solisten insgesamt. Ein Vorteil der Stimme des zweiten Solisten (Vers: Longe) ist deren obertonreiches Timbre, wodurch sie sehr schön zeichnet. Das kommt insbesondere den fünffachen kurrenten Reperkussionen zugute (ebenfalls im Vers Ipsi vero). Auch die Verse Libera me und Annuntiabitur sind besonders schön gelungen. Noch ein Wort zu dem anderen „prominenten“ Gesang, dem GR. Christus factus est: Hier findet die Schola zu einer angemessenen Balance zwischen Ruhe und Intensität des Ausdrucks. Da hat man den Eindruck, dass bei einer erfahrenen Schola ein Gesang Zeit hatte zu „reifen“.
Eine weitere solistische Leistung, die mir wegen ihrer Homogenität besonders gut gefallen hat, ist die der Solisten bei den Improperien. Da hätte man sehr gerne nicht nur den ersten Vers gehört, sondern auch die Verse Quia eduxi te und Quid ultra debui!

Die im Booklet (S. 4) als „Aufnahmeort mit idealen Klangbedingungen“ bezeichnete Kapelle U.L.F. zu Kobolzell im Taubertal ist als „Klang-Raum“ in der Aufnahme „präsent“ – allerdings so dezent, dass der Hall nicht den Gesang dominiert. Vielmehr hat man den Eindruck, dass die Mikrofone durchaus dicht an den Sängern platziert waren – sei es räumlich, sei es durch ihre hohe Sensibilität. So ergibt sich einerseits eine ausgewogene Balance der Einzelstimmen, andererseits werden deren spezifische Charaktere aber nicht nivelliert.
Eine solch hoch sensible Aufnahmetechnik bringt jedoch auch einen Nachteil mit sich. Darauf sei hier zumindest aufmerksam gemacht: Um musikalische Sinnzusammenhänge auch gesanglich als solche darzustellen, bevorzugt Maestro Göschl mit seiner Schola das „chorische“ Atmen. Diese Praxis findet naturgemäß vor allem in melismatischen Gesängen Anwendung – mit insgesamt sehr überzeugendem Ergebnis. Doch während in Gottesdienst oder Konzert das chorische Atmen kaum oder gar nicht hörbar ist, wird es von hoch sensiblen Mikrofonen mitunter doch aufgezeichnet – und konserviert. Zumindest beim mehrfachen Hören der CD kann das gelegentlich die Freude ein klein wenig trüben – vielleicht „hört“ der Rezensent aber auch nur „das Gras wachsen“?
Interessant ist für den Hörer auch der Vergleich mit dem Graduale Novum, insbesondere mit den dort von den Herausgebern gesetzten Atem- und Gliederungszeichen. Auch wenn diese Angaben natürlich ad libitum sind, so wollen die Herausgeber damit dem Interpreten doch einen Vorschlag unterbreiten, wie das Stück sinngemäß phrasiert und atemtechnisch gegliedert werden kann. Es ist beruhigend zu hören, dass selbst Maestro Göschl als einer der Herausgeber hier einen erfrischend pragmatischen Umgang mit diesen Angaben pflegt. So singt die Schola ohne Zwischenatmung durch z. B. im zweiten Vers des TR. Saepe expugnaverunt me bei a iuventute mea, während der Solist an der Parallelstelle im Vers Etenim bei peccatores atmen „darf“, obwohl das Melisma hier sogar etwas kürzer ist als am Ende des zweiten Verses. Wenn der Solist dort im Melisma atmen „darf“, weil es musikalisch in Ordnung ist und weil er es muss – warum dann nicht auch die Schola zuvor in demselben Melisma? Ansonsten aber hätte man auch den Solisten bitten müssen, diese Stelle auf einen Atem zu singen: fabricaverunt peccatores. – Die auf der CD zu hörende „Lösung“ lautet: Wenn das chorische Atmen es Euch erlaubt, eine musikalische Einheit auf einen „Atembogen“ zu singen, dann macht es so; wenn Du aber als Solist in derselben oder einer vergleichbaren musikalischen Situation atmen musst, dann atme dort.

Das Booklet ist zweisprachig (dt./engl.; Gesangstexte: lat./dt./engl.). In einer ausführlichen Einführung entfaltet Johannes B. Göschl die liturgiegeschichtlichen und kompositorisch-musikalischen Aspekte der Gesänge. Er stellt diese dabei in den großen Kontext der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums und beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen Kirchen-, Theologie- und Liturgiegeschichte und der Entstehung der gregorianischen Gesänge. Darüber hinaus werden auch die Gesänge der Proprien im Einzelnen analysiert und in den liturgischen Zusammenhang eingeordnet. An besonders anschaulichen Beispielen geht der Autor auf das spezifische Wort-Tonverhältnis ein und hebt den geistlich-existentiellen Gehalt der Gesänge ans Licht. Auf diese Weise wird sowohl Kennern als auch Liebhabern des Gregorianischen Chorals eine hervorragende Einführung in die Gesänge und ihre liturgischen und theologischen Zusammenhänge geboten.

Das Booklet wird durch farbige Abbildungen illustriert. Darauf sind zu sehen: die Schola Gregoriana Monacensis; der Aufnahmeort (Kapelle U.L.F. zu Kobolzell im Taubertal bei Rothenburg o. T; eine Seite mit dem Trishagion aus dem Cantatorium von St. Gallen; eine Seite mit der Ant. Pueri Hebreorum aus dem Codex Rom, Biblioteca Angelica 123; schließlich der Beginn des IN. Nos autem gloriari aus dem Graduale von Kloster St. Katharinenthal, um 1312. Ein Ausschnitt von dieser Seite bildet auch das Coverbild der CD: Die Initiale „N“ zeigt den kreuztragenden Christus. Weitere vier Miniaturen aus demselben Codex zieren die Ränder aller Bookletseiten. Die dafür verwendeten Fotos aus diesem Codex stammen von Birte Göschl.

Prope est Dominus: Wie diese „adventliche“ Überschrift auf S. 2 des Booklets zu verstehen ist, hat sich dem Rezensenten nicht erschlossen: Möglicherweise ein Relikt aus einer der vorangegangenen CD-Produktionen? Auf S. 35 des Booklets wird auf eine CD-Reihe des EOS-Verlags hingewiesen: Den Auftakt dieser Reihe bilden die CDs EXSULTA FILIA SION und PROPE EST DOMINUS. Mit der CD HOSANNA FILIO DAVID hat die Schola Gregoriana Monacensis in dieser Reihe eine (weitere) Referenzaufnahme vorgelegt. Geplant sind, so erfährt man auf S. 35 ebenfalls, weitere Einspielungen auf der Grundlage des 2011 erschienenen Graduale Novum.
Auf diese CDs darf man freudig gespannt sein, nicht nur, weil darauf etliche Gesänge wohl erstmals in einer restituierten Melodiefassung zu hören sein werden, sondern insbesondere auch wegen der interpretatorischen Frische und Dynamik der Schola Gregoriana Monacensis und ihres Leiters.

Christoph Hönerlage
Bezugsquelle