Nicht weit von Ravensburg entfernt liegt die 1924 in Kellenried gegründete Benediktinerinnenabtei St. Ehrentraud (www.abtei-kellenried.de). Von deren Pflege des Gregorianischen Chorals „sollte eine Momentaufnahme der täglichen liturgischen Praxis entstehen“, wie im Booklet Johannes Berchmans Göschl schreibt. Für die Aufnahme vom 10. bis 12. August 2009 in der Abteikirche hat man aber doch besondere Formulare ausgewählt, nämlich die des Ordensgründers Benedikt, seiner Schwester Scholastica und seiner beiden an einem Tag gefeierten Schüler Maurus und Placidus. Weil von Festfeiern für den immerhin (um) 480 geborenen Ordensgründer, seine Schwester und seine Schüler im authentischen gregorianischen Kernrepertoire keine Kompositionen überliefert sind, hat man auf Gesänge zurückgegriffen, die sich in dem Repertoire finden, das seit dem 8. Jahrhundert für andere liturgische Feiern überliefert ist und für die Feste der Scholastica und der beiden Benediktschüler im Graduale Romanum 1974 (= GT) vorgesehen sind.
Für das Fest des Ordensvaters selbst wurden die Gesänge vom Fest (der translatio) am 11. Juli gewählt, und zwar in der Reihenfolge der Angabe bzw. Wiedergabe der Stücke im aquitanischen Codex Albi aus dem 11. Jahrhundert. Dort findet sich auch (f. 104) der Allelujavers Confessor Domini Benedicte (Tr. 4), der eine Adaptation des Alleluia Laudate Dominum (GT 273) darstellt und den man im GT vergeblich suchen würde. Die Aufnahme zu diesem Fest enthält auch die Sequenz Laeta dies (GT 871), und mit den Propriumsgesängen verbunden ist das Ordinarium XIV und von den Priestergesängen Gabengebet und Präfation. Diese werden von P. Thomas Ruoß aus der noch näher an Kellenried als Ravensburg gelegenen Abtei Weingarten in guter Textgestaltung gesungen. Die Propriumsgesänge der beiden anderen Feste werden nicht durch weitere Gesänge erweitert, nur zum Offertorium wird hier jeweils ein Vers gesungen.
In den Zusammenhang der oben genannten „täglichen liturgischen Praxis“ gehören noch andere Hinweise im Booklet. So folge die Aussprache des Lateinischen der seit Jahrzehnten im Kloster gepflegten sog. deutschen Aussprache. Das ist natürlich völlig legitim. Wichtig ist, daß von der singenden Gruppe einheitlich und verständlich gesprochen und artikuliert wird. Und das ist gut gemacht. Die Dokumentation der liturgischen Praxis auf der CD erforderte auch, daß nicht nur „die geschulteren Stimmen der Schola“ zu hören sind, sondern „im Rahmen des Möglichen der gesamte Konvent miteinbezogen wurde“ (Booklet S. 14). Und sowohl der gesamte Konvent als auch die kleinere Gruppe singen insgesamt sehr homogen, mit einem schönen Klang, gelegentliches Sinken dabei fällt kaum auf. Die Atem“pausen“ sind dem Text entsprechend gestaltet, nicht zu lang und vor allem nicht so zahlreich, wie in den gedruckten Ausgaben vorgesehen. Auch die Solistin in den Versen gestaltet ihre Passagen in kluger Einteilung, souverän und – manchmal – etwas aufgeregt wirkend. Aber in welchem Kloster wird man bei der täglichen Praxis pausenlos vom alles hörenden Mikrophon belauscht? Zu wiederholen und zu unterstreichen sind das Lob und die Anerkennung, die Göschl den Sängerinnen ausspricht, daß sie nämlich auch alle notwendigen melodischen Restitutionen übernommen haben, daß sie sich, wie es heißt, „auf dieses bisher für sie ungewohnte ‚Abenteuer‘ eingelassen haben, das für manche von ihnen Abschied von überkommenen und liebgewordenen Sing- und Hörgewohnheiten bedeutete“. Allerdings ist diese Umstellung etwas Substantielles, denn die Restitutionen folgen nicht einer zeitbedingten musikalischen „Mode“ oder einer regional bedingten Aussprache, sondern bringen erst die dem Text einverleibten Melodien in ihrer Authentizität auch in den Fällen zu der ihnen eigenen Aussage, in denen sie in der Vaticana noch nicht enthalten ist.
So macht z.B. erst die Melodierestitution bei der Communio Fidelis servus [Tr.9] deutlich, daß die Komposition die beiden Teile des neutestamentlichen Textes, der am Anfang gegenüber dem Original verändert ist, an ihrem Ende jeweils parallel gestaltet, inhaltlich die Aussage über den treuen Knecht parallel ausklingen läßt zu seinem Auftrag, beides also in hörbare Beziehung zueinander setzt. Am Anfang des Introitus Dilexisti [Tr. 10] geht die restituierte Melodie über dem ersten Wort nicht bis zum do, sondern bis zum si und macht dadurch schon hier die Beziehung zum folgenden iustititam deutlich, daß nämlich das Objekt iustitiam wichtiger und Ziel des diligere ist: Geliebt hast du die Gerechtigkeit.
Im Booklet rahmen auf dem Photo die Stimmbilderin Margaretha Mommaas und der Leiter der Aufnahme, Johannes Berchmans Göschl, die Gruppe ein: Ein Hinweis, daß die ermutigenden und kenntnisreichen Hinweise zur Stimmtechnik viel zum Gelingen der Aufnahme beigetragen haben.
Daß die Ordinariumsgesänge auch auf der Basis der Erkenntnisse der Semiologie gestaltet wurden, die für das authentische Repertoire zur Verfügung stehen, ist hier selbstverständlich und bedürfte eigentlich keiner Erwähnung. Daß es doch geschieht, liegt an der Ausführung der Sequenz Laeta dies. Die ist nämlich als weitgehend syllabischer Gesang sehr äqualistisch ausgefallen, was nur durch übermächtige Gewohnheiten erklärbar ist, die dann doch irgendwo noch „durchschlagen“.
Die Auswahl der Gesänge am Fest des Hl. Benedikt führt dazu, daß im Introitus und im Graduale derselbe Psalmtext vertont ist, der nur im Vers des Graduale um einen Halbvers länger ist. Auf diese Weise wird die Verschiedenheit der Vertonungsstile der beiden Gesänge deutlich, die durch die Verschiedenheit ihres jeweiligen liturgischen Ortes bedingt ist: Der zum Einzug gesungene Introitus ist kürzer und unmittelbarer einstimmend, die Ausführung der melismatischen Gradualkomposition läßt dem Erklingen der Inhalte mehr Zeit, ist also meditativer. Das wird durch die Ausführung gestützt. Die Gestaltung der Endsilbe von sapientiam nach meditabitur ist ein Beispiel: Der Mund des Gerechten bewegt die (in Worte gefaßte) Weisheit Gottes – und nimmt sich Zeit dafür: Das im Cantatorium zum Melisma der Endsilbe hinzugesetzten „tenere – halten“ wird so umgesetzt, als ob das meditari sapientiam kein Ende haben sollte. Das „Bewegen der Weisheit Gottes“ wird als ein längerer Vorgang im Herzen des Gerechten auch durch das fein ausziselierte Melisma der Akzentsilbe von corde im Vers deutlich: Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen – in corde ipsius.
Im Graduale Specie tua [Tr. 11] endet im Responsum das kleine Melisma auf der Endsilbe von pulchritudine mit einer Resupinbewegung, die zurückhaltend und doch so intensiv gestaltet ist, daß trotz des Atmens danach das zu dem Wort gehörende folgende tua als zugehörig vorbereitet und dann gehört wird: In deiner Schönheit – oder bei Nachahmung der Wortstellung In der Schönheit von dir. Bei der sich anschließenden Aufforderung intende – merke auf ist das kleine Melisma auf der Endsilbe am Ende mit einem Quilismascandicus gestaltet, dessen Drängen zum dritten Ton auch mit einer solchen inneren gebändigten Intensität ausgeführt ist, daß man hört: Hier ist eine allgemeine Aufforderung ausgedrückt, und dann folgt deren spezielle Ausführung nach gebührendem Anschluß: prospere procede et regna – „schreite glücklich voran und herrsche.“ Diesen „kleinen“ Feinheiten entspricht die gesamte Gestaltung des Gesanges von einem hohen Schwierigkeitsgrad, der auch von der Solistin souverän bewältigt und in Klang umgesetzt ist. Auch die Melismen lassen eine überzeugende, feine Differenzierung hören.
Solche Gestaltungen der Endsilben und vor allem der differenzierte Einsatz des Atmens bewahrt und gestaltet bei allen Gesängen die Textzusammenhänge und inneren Spannungsbögen mit einer auf den Erkenntnissen der Semiologie basierenden individuellen Interpretation, der man gerne und mit Gewinn zuhört. Die Proportionen zwischen den unterschiedlichen Tonwerten sind gut ausgewogen und eine zu breite Gestaltung der nichtkurrenten Clivis auf der Endsilbe und des nichtkurrenten Torculus auf der vorletzten Silbe eines Wortes als den Fluß des Gesanges hemmend erfreulicherweise weitestgehend vermieden. Jeweils dem Text entsprechend sind die gregorianischen Gesänge mit ihren unterschiedlichen agogischen, jeweils dem Text verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten ohne jegliche aufgesetzte Übertreibungen gestaltet, sind der Zusammenhang und das jeweilige musikalische Relief gewahrt.
Dafür noch ein weiteres Beispiel: Dem ersten Satz des Offertoriums Desiderium animae eius tribuisti ei, Domine [Tr. 6] folgt als inhaltliche Parallele und den Wunsch seiner Lippen hast du ihm nicht vorenthalten – et voluntate labiorum eius non fraudasti eum. Die fünftönige melodische Bewegung über non im Quintraum mit Resupinton am Ende unterstreicht die Aussage der Negation, daß die Erfüllung des Wunsches eben nicht verweigert wurde; die intensive gesangliche Gestaltung mit der augmentativen Liqueszenz setzt das hervorragend um, nicht zuletzt, wenn man die kurz darauf folgende unterschiedliche Gestaltung des melodisch fast identisch gestalteten Wortakzents von posuísti hört. Das Offertorium endet mit den Worten posuisti in capite eius coronam de lapide pretioso – Gesetzt hast du auf sein Haupt eine Krone von Edelstein. Unmittelbar vor der Endsilbe von pretioso mit einem einzigen Ton findet sich das längste Melisma des Gesanges auf dem Wortakzent. Es gestaltet die Bedeutung der Krone, indem es das Hören länger beansprucht. Der Vorgang des Hörens wird gewissermaßen ausgedehnt in Richtung auf ein Sehen – das man ja nach eigenem Belieben länger ausdehnen kann. Dem entspricht in der gesanglichen Ausführung, daß das Atemzeichen der Vaticana unbeachtet geblieben ist und die Reperkussionen und zarten Bogenbewegungen der Melodie den Eindruck eines ausgedehnten Schmucks lange fortführen.
Das sehr sorgfältig bearbeitete Booklet enthält im ersten Teil eine Einführung in die Gesänge durch Sr. Hannah Golla OSB und Sr. Ignatia Kretz OSB, erst allgemein, dann in jeden einzelnen Propriumsgesang mit Angabe der Textherkunft, soweit das möglich ist, und gegebenenfalls mit Hinweisen auf die Regel des hl. Benedikt. Der zweite Teil bietet Erläuterungen von Johannes Berchmans Göschl „Zur Geschichte und Interpretation der Gesänge“, aus denen oben nur weniges zitiert worden ist, um die Lektüre im Booklet nicht überflüssig erscheinen zu lassen. Beide Teile erscheinen auch in englischer Übersetzung. In beide Sprachen übersetzt folgen als dritter Teil alle lateinischen Texte der Gesänge. Die deutsche Übersetzung der Gesangstexte bleibt, wie auch im Booklet ausdrücklich gesagt wird, möglichst nah am lateinischen Wortlaut (was auch für die Präfation gilt), stimmt also nicht immer mit der Einheitsübersetzung überein. Dadurch wird eine wirklich brauchbare Übersetzung der Gesangstexte vorgelegt. Sie erleichtert das Verständnis des lateinischen Wortlauts, weil der ja nicht immer mit der Fassung übereinstimmt, die der Einheitsübersetzung zugrunde liegt. An manchen Stellen wäre noch etwa mehr Mut zu wünschen, entgegen einem alltäglichen deutschen Sprachgebrauch eine ungewöhnlichere Wortstellung zu wagen. Das macht nämlich auch auf den Inhalt der Texte aufmerksam.
Insgesamt, auch im lateinischen Text, sind nur ganz wenige Druckfehler unterlaufen. Nur folgende müssen erwähnt werden. In zwei Fällen ist etwas anderes gesungen als gedruckt: Der Schluß der Präfation ist Per Christum Dominum nostrum, und der Vers zum Offertorium Filiae regum [Tr. 13] beginnt tatsächlich mit der seltenen Form Eructuavit statt Eructavit. Bei der Übersetzung von Quinque prudentes virgines [Tr. 14] ist versehentlich die Übersetzung von prudentes entfallen; aber es waren schließlich kluge Jungfrauen, die Öl in Krügen zusätzlich zu den Lampen mitgenommen haben. Gerade dieses Wort sollte nicht fehlen, zumal sich die Aufnahme als klug konzipiert und schön gelungen erweist.
Heinrich Rumphorst