Quoniam in me speravit

Aufgenommen vom 3. bis 5. September 2012 in der Kirche „Unsere Liebe Frau“ zu Kobollzell – Rothenburg o.T., setzt diese CD die Reihe „Das Kirchenjahr im Gregorianischen Choral“ fort, die 2009 von der Schola Gregoriana Monacensis unter der Leitung von Johannes Berchmans Göschl begonnen wurde und eine Gesamtaufnahme der im Graduale Novum edierten Gesänge zum Ziel hat. Bevor (noch 2013) auch weitere als die genannte Choralschola derartige Einspielungen im EOS-Verlag vorlegen (vgl. dazu den Bericht über die Sitzung des Consiglio Direttivo im Februar 2013 in diesem Band der BzG), präsentiert sich mit dieser CD die bewährte Schola Gregoriana Monacensis unter anderer Leitung: Sie hat hier Stephan Zippe übernommen, der 2006 Göschl als Professor an der Hochschule für Musik und Theater in München nachfolgte und Mitglied der Schola ist seit ihrer Gründung 1998.

Die vorliegende Aufnahme enthält die Propriumsgesänge der ersten vier Fastensonntage. Dabei konnten nicht in jedem Fall alle verschiedenen Gesänge, die aufgrund der Leseordnung von Jahr zu Jahr wechseln können, berücksichtigt werden, weil es die Kapazität der CD überschritten hätte. Daher wurde nur der am zweiten Fastensonntag als Alternative angegebene Introitus Reminiscere zusätzlich eingesungen, da er zum ältesten Repertoire gehört; für die anderen Sonntage wurde den Gesängen des vorkonziliaren Repertoires der Vorzug gegeben.

Die Propriumsgesänge des ersten Fastensonntags bilden insofern eine Besonderheit, als alle einem einzigen Psalm entnommen sind, und zwar dem Psalm 90, dessen Verse 11 und 12 bei Lukas und Matthäus in dem Evangelium von der Versuchung Jesu zitiert werden: „Denn seinen Engeln wird er deinetwegen gebieten, …“ In den drei Lesejahren erscheinen die Evangelien nach Matthäus, Markus (in sehr kurzer Fassung / Lesejahr B) und Lukas, so daß keiner der ursprünglichen Propriumsgesänge ersetzt werden mußte.

Der Text der genannten Psalmverse ist der des Graduales und der von zwei der insgesamt 13 Verse des Tractus mit der für die jeweilige Gattung typischen Vertonung. Johannes Berchmans Göschl weist im Booklet darauf hin, daß „der vertrauensvollen Grundstimmung dieses Textes … die Verwendung der Typusmelodie der Gradualien im II. Modus mit ihren hellen Klangfarben und seiner tröstlich und befreit dahinfließenden Melodik sehr entgegen“kommt (S. 6 f.).
Für den sich anschließenden Tractus im II. Modus gibt er (S. 7 f.) Beispiele dafür, wie die Typusmelodie jeweils „in strenger Konsequenz dem Text angepasst“ wurde. (S. 7). Die gesangliche Gestaltung läßt das eindrucksvoll „nach“hören. Der Tractus (Track 3) wird, dem Gattungsnamen entsprechend, „tractim“ gesungen, in einem Zuge, ohne Wiederholung, wobei der erste, sechste und der letzte Vers in dieser Aufnahme von allen übernommen wird, die übrigen von vier Solisten. Dieser Wechsel läßt die Wiederholungen von Tonfolgen immer wieder neu und unmittelbar empfinden, was dem Text und seiner Einprägsamkeit dient. Die Tractus der übrigen Sonntage folgen dieser „Aufführungspraxis“.

Wie unterschiedlich ein und derselbe Text vertont werden konnte, zeigt der mit Scapulis suis beginnende (Ps. 90, 4.5a), der zuerst in der Typusmelodie des Tractus erscheint, dann in Offertorium und Communio. Bei dieser führen die chromatischen Verschiebungen bei scuto circumdabit te – mit einem Schild wird dich umgeben dazu, daß man das ihnen folgende veritas eius – seine Wahrheit mit der gegenüber der Vaticana 1908 nicht veränderten Tonfolge ganz neu hört.
Im Offertorium ist dem originalen Psalmtext Scapulis suis obumbrabit tibi – Mit seinen Schultern wird Schatten spenden dir hinzugefügt: dominus – der Herr; die herausgehobene Vertonung von tibi – profiliert im Gesang vorgetragen – führt intensiv auf dieses Wort zu; in der Communio ist dominus nicht hinzugefügt, weshalb tibi dort die erste Textphrase ruhig abschließt.

Im Introitus sind Vers 15a und c und der sich daran anschließende erste Teil von Vers 16 vertont, in dem Wortlaut des Psalterium Romanum. Die Übersetzung im Booklet lautet: Er wird mich anrufen, und ich werde ihn erhören. Ich werde ihn herausreißen und verherrlichen. Mit der Länge der Tage will ich ihn erfüllen. Sowohl der sein Leiden erwartende Christus als auch jeder Mensch, der in seiner Not seine Zuversicht auf Gott richtet, können als Sprecher dieser Worte verstanden werden. Dem Anrufen des Invocabit folgen die Verheißungen in vier Aussagen, die die aktive Reaktion Gottes formulieren: exaudiam – eripiam – glorificabo – adimplebo. Der Halbvers 15 b (cum ipso sum in tribulatione – bei ihm bin ich in der Not) ist im Introitus ausgelassen und damit der Textteil, in dem auch das Negative genannt ist; die Not wird nicht musikalisch gestaltet, nur das Helfen und das, was über das Helfen hinausgeht: Ich werde ihn verherrlichen – glorificabo. Dieses Wort ist mit seiner Vertonung die Versicherung, daß die beginnende Zeit des Fastens und der Buße in die Herrlichkeit der Auferstehung mündet: Über dem Wortakzent (-ca-) erklingt eine Tonfolge, die man auch als Osterformel bezeichnet, wird sie doch in den Cantica der Osternacht mehr als zehnmal gesungen. Die gesangliche Gestaltung dieses Wortes ist auf der CD österlich gelungen, die Formel wird geradezu sieghaft profiliert und erhält durch die ruhig gesungene vorhergehende Einzeltonneume und die nachfolgende lange Pause zusätzliches Relief.

Am zweiten Fastensonntag lassen der nachkonziliar angesetzte Introitus Tibi dixit (Tr. 6) und der ursprüngliche, mit dem Wort Reminiscere beginnende Introitus (Tr. 7) die Unterschiedlichkeit der beiden Modi Deuterus authenticus (III. Modus) und Deuterus plagalis (IV. Modus) hören und empfinden; der plagale Modus des In. Reminiscere – Erinnere dich bewegt sich weitgehend in der kleinen Terz um den Grundton mi. Dagegen hat der Anfang des Introitus Tibi dixit – Zu dir sprach auf den ersten drei Silben noch den Tenor si des III. Modus bewahrt, aber bereits auf der zweiten Silbe von di-xit „siegt“ das konkurrierende do und prägt die erste Hälfte des Gesangs. Ein la schließt die erste und die dritte Textpasssage ab und der Grundton mi erscheint erst im letzten kurzen Abschnitt.
Die Endsilbe (di-)xit hat das erwähnte do, und zwar mit einer sechsmal im gesamten Repertoire vorkommenden Formel: Ihre sieben unisonischen Töne mit unterschiedlichen Tonwerten gestalten, in vorbildlichem Vortrag gesungen, die Endsilbe als fortwährendes „Sprechen“ dessen, was als ständige Wiederholung gemeint ist: quaesivi vultum tuum – ich suche dein Antlitz, für das auf der letzten Silbe von tu-um mit drei unisonischen Tönen auch ein Weiterklingen gestaltet ist.

Eine ganz andere Reperkussion unisonischer Töne zeigt sich im Tractus Commovisti (Tr. 9), in dessen Melodie neben originalen Vertonungsabschnitten auch solche der Typusmelodie der Trakten des VIII. Modus erklingen. Eine dieser Formeln findet sich am Ende des Gesangs; sehr eindrucksvoll wird hier die Trivirga von der Schola gestaltet, wie ein Kristallisationskonzentrat der häufig erscheinenden Tonfolge (auf dieser CD noch am Ende von Tr. 14 und 19).

Die Verklärung Jesu ist Thema der Communio des 2. Fastensonntags: Visionem quam vidistis, nemini dixeritis …. Die Erscheinung, die ihr gesehen habt, niemandem sagt (sie weiter)…! (Tr. 11). Göschl weist im Booklet (S. 13) auf die perfekte Übereinstimmung der Melodie mit den entscheidenden Wörtern des Communiotextes hin. Die Schola ihrerseits gibt ihnen die gesanglich einprägsame Gestaltung.

Am dritten Fastensonntag sind in zwei Gesängen die Augen (oculi) thematisiert, die auf den Herrn gerichtet sind. Mit einem markanten Quintpes vom Grundton sol zum Tenor re des VII. Modus wird Oculi auf dem Wortakzent am Anfang des Introitus dem Hörer ins Herz gesungen, wobei die folgenden Einzeltöne auf den beiden Endsilben und auf dem sich anschließenden mei – meine (Augen) ebenso kraftvoll zu dem wichtigen Wort semper – immer geführt werden, dessen Vertonung ihrerseits ihr Ziel in dem folgenden Wort (ad) Dominum findet. Anschließend singt die Schola mit kürzeren Tonwerten über quia und ipse auf den melodischen Höhepunkt hin: evellet – weil er selbst herausreißen wird aus der Schlinge meine Füße. Rhythmisch-agogisch geben das „celeriter- schnell“ in der Handschrift Einsiedeln und die beiden Pünktchen über quia in Laon die schnelle Bewegung auf den melodischen Höhepunkt bei evellet an, sicherlich in der Intention des Komponisten, der das dreisilbige und damit gewichtigere quoniam der beiden lateinischen Psalmfassungen (Ps. 24,15) durch das kürzere quia ersetzt hat. Das führt die Schola völlig angemessen aus.

Im Tractus desselben Sonntags (Tr. 14) erscheint die Aussage vom Introitusanfang mit ähnlichen Worten aus einem anderen Psalm (122, 1-3). Der Sprecher nennt das Ziel seines Blickens hier mit einem Personalpronomen, das durch einen Pes quadratus eine markante, aber kurze Vertonung aufweist: Ad te levavi oculos meos – zu dir erhebe ich meine Augen. Dann folgen zwei parallel vergleichende Hinweise auf zwei Menschengruppen, die auch ihre Augen auf jemanden richten: wie die Augen der Knechte – wie die Augen der Magd, jeweils mit derselben Melodie, die aber dem spezifischen Text angepaßt ist. Dann folgt mit einem modal und agogisch markant komponierten Ita – so der zweite Teil des Vergleichs: Ita oculi nostri ad Dominum Deum nostrum – so sind unsere Augen gerichtet auf den Herrn, unseren Gott. Hier ist aus der ersten Person Singular am Anfang (meos) der Plural geworden (nostri), und statt des kurzen Ad te wird ein lang auskomponiertes ad Dominum Deum nostrum gesungen.
Die Aufteilung der Verse auf verschiedene Ausführende entspricht in besonderer Weise dem Inhalt: Die beiden Vergleiche mit den Knechten und der Magd werden von verschiedenen Solisten gesungen, der folgende Vers Ita oculi nostri von der gesamten Schola. Dabei erhält nostri durch die Verzögerung der längeren Tonwerte in der Mitte des Melismas der Bedeutung des Wortes entsprechend noch ein besonders herausgearbeitetes Relief.

Nicht übergangen werden darf der besondere Schwierigkeitsgrad (mit vielen und langen Reperkussionen) des Graduale Exsurge Domine im III. Modus (Tr. 13), das die Schola und besonders der Solist (Sebastian Schober) scheinbar mühelos vortragen. Es ist lohnend, den Gesangsvortrag von Sebastian Schober mit dem des Solisten Stefan Pausch mit ähnlicher Stimmlage zu vergleichen. Sebastian Schober singt mit einem leichten Vibrato, das überzeugend ist und die Grenzen dieser Vortragsart nicht überschreitet. Stefan Pausch gestaltet den Text ebenso eindrucksvoll ohne Vibrato.

Im Booklet wird „der insgesamt freudige Charakter“ der Messe vom vierten Fastensonntag betont. Das zeigt sich in den Texten und in bestimmten musikalischen Gestaltungen. So verweist Göschl (S. 18) auf die Intonation des Introitus, die die Schlußwendung des großen Allelujas im VIII. Modus der Osternacht, dem der Vers Confitemini folgt, zitiert und damit – vergleichbar der Osterformel über glorificabo im Introitus (s. oben zu Tr. 1) – ein musikalischer Hinweis ist auf die Osternacht, in der die Auferstehung des Herrn gefeiert wird. Beschränkt sich das Proprium des ersten Fastensonntags noch auf ein melodisches Zitat, so sind es in dem des vierten Sonntags mehr als die erwähnte Kadenz des Allelujas, denn der Tractus im VIII. Modus (Qui confidunt / Tr. 19) beginnt als einziger der Trakten der Fastensonntage mit der Intonationsformel der Cantica der Osternacht im VIII. Modus, und nur in ihm erklingt wieder die „Osterformel“, und zwar zweimal, in den anderen Tractus im VIII. Modus am 2. und 3. Fastensonntag nicht. Daß der freudige Charakter dieser Gesänge erfahrbar wird, ist den Ausführenden zu danken. Als Hörer glaubt man ihnen das, was sie singen; das gilt für die gesamte Aufnahme. Die Schola und die Solisten sind jederzeit präsent, z.B. den Wunsch „Fiat pax… es werde Friede in deiner Kraft…“ (Tr. 18) vollzieht man mit dem Vortragenden (Sebastian Schober) innerlich mit.

Die Schola und die insgesamt fünf Solisten, deren Individualität nie eingeebnet ist, gestalten Inhalte, die Schola singt sehr homogen, mit überzeugendem Klangbild, unterscheidet betonte und unbetonte Silben; im Gesangszusammenhang hervorstechende oder zurückgenommene Worte werden entsprechend berücksichtigt und so Höhepunkte der Kompositionen überzeugend gestaltet. Sehr sorgfältig sind die agogischen Angaben der adiastematischen Handschriften beachtet, wobei die längeren Töne nicht einfach länger sind, sondern Artikulationen einer Melodieentwicklung, also dynamischen Charakter hören lassen. Auch die Resupintöne sind sehr sorgfältig ausgeführt und tragen so zur Verdeutlichung des jeweiligen Textinhalts bei; über einige Reperkussionen wurde schon gesprochen; durchweg sind sie sorgfältig und gut ausgeführt, mit Berücksichtigung des Kontextes. Der Kirchenraum ermöglicht dabei einen überzeugenden und angemessenen Hall.

Nun ist natürlich (?) auch eine ganz hervorragende Aufnahme Menschenwerk. Und daher sind auch ein paar korrigierende Hinweise zu geben. Beim ersten Ton des In. Laetare scheint mir die Technik versagt zu haben, der Anfangston „klappert“, bei der Wiederholung nach dem Psalmvers nicht. Bei allen Gesängen mit Wiederholungen sollte konsequenter darauf geachtet werden, daß der Schluß eines Abschnitts vor dem solistischen Vers immer so gestaltet ist, daß man diesen auch erwartet. Das ist z.B. beim In. Invocabit gut gelungen, beim Gr. Laetatus sum weniger. Und an einer Stelle wird man an die Unsicherheit in der Angabe eines b in den diastematischen Handschriften erinnert. So ist in der Aufnahme im Melisma von meridiano (Tractus Qui habitat – Tr. 3, Vers 6) als tiefster Ton ein B gesehen (und gesungen), das da gar nicht steht. Vielleicht stand da den Sängern ein Notenbild wie in dem Abstieg im Melisma von (Commovi-)sti (Tr. 9) oder (di)le(xi) (Tr. 10) vor Augen (bzw. Ohren), wo tatsächlich ein Ganztonabstieg vorliegt.

Das Booklet ist nicht nur äußerlich ansprechend gestaltet, sondern auch inhaltlich von hoher Qualität. Es enthält auf den Seiten 2 bis 21 zu allen Gesängen ausführliche, kenntnisreiche und einfühlsame Erläuterungen von Johannes Berchmans Göschl, die für das Verständnis ihrer musikalischen und theologischen Aussagen wirklich hilfreich sind. Den liturgischen Hintergrund erhellen auch die Hinweise auf Änderungen in der Zuordnung einzelner Gesänge nach dem II. Vatikanum. Alle Texte sind auch in englischer Übersetzung gegeben, auch die Informationen über die gesamte Reihe der CDs, die Schola und den Leiter dieser Aufnahme. Die Texte der Gesänge sind vollständig in lateinischer Sprache abgedruckt, die deutsche Übersetzung ist in ihrer Genauigkeit eine Hilfe für das Verständnis. Auf S. 28 muß der lateinische Text lauten: Passer invenit sibi domum (nicht Passer invenit domum suam), und im Verzeichnis der Gesänge (Booklet S. 32 und Rückseite der CD-Hülle) muß das Incipit der Communio von Track 11 Visionem heißen, nicht Terribilis.

Die angemerkten Versehen beeinträchigen die hohe Gesamtleistung nicht. Es handelt sich bei dieser CD um eine vorbildliche und hervorragend gelungene Aufnahme eines kenntnisreich und engagiert gestaltenden Vortrags der Gesänge, die beeindruckt und die man, einschließlich des Booklets, nur weiterempfehlen kann.

Heinrich Rumphorst
Bezugsquelle